Samstag, 24.05. 2003.

Wieder treffen sich Aasee-Mönche und Münsterlandfohlen zur gemeinsamen Fußballwallfahrt. Diesmal im Doppeldecker. Diesmal zum Bökelberg. Diesmal bei Regen. Letzterer stört jedoch nur unwesentlich. Wie heißt es so schön? „Im Auto ist die Stimmung groß, und alle singen los...“

In Gladbach ist es erfreulicherweise zunächst trocken. Da noch Zeit ist, genehmigt sich der Tross noch ein paar Bierchen vor der Fankneipe. Überall reichlich Frohsinn. Alle Bedenken, alle in der Vorwoche tausendmal durchdachten Unwägbarkeiten, alle Sorgen wurden offensichtlich beiseite geschoben und verdrängt. So lässt sich das ganze doch wesentlich leichter ertragen. Und wer weiß, vielleicht wird’s ja gar nicht so wild. Vielleicht spielt Nürnberg wider erwarten mit, vielleicht strengt sich Hannover ja doch noch mal an. Sobald Bayer oder Bielefeld verlieren, sind wir so oder so durch. Schön wär’s...

Wir erklimmen den Berg. Trubel rund ums Stadion, das sich – lange ausverkauft – heute früh füllt. Ein paar Bremer sind auch da. Vorprogramm. Unter anderem wird Stéphane Stassin mit einem Blumenstrauß verabschiedet. Was der wohl mit dem Grünzeug will, frage ich mich. Dann ist die Stunde der Wahrheit gekommen.

Gladbach beginnt ganz in weiß und mit gewohnter Aufstellung. Scheinbar ein Spiel wie jedes andere. Allerdings möchte ich den Bremern verbieten, sich unserem Tor mehr als 30 Meter zu nähern, denn da werde ich dann doch fast schon übernatürlich nervös. Bereits nach drei Minuten packt Demo den Hammer aus – Latte. Ich halte das für eine völlig unnötige Erschütterung meines inneren Gleichgewichts. Den hätte unser „Fußballgott“ ja auch mal schön in den Winkel zimmern können, dann ginge es uns allen jetzt erheblich besser. Aber nein...

Mit Magnin scheidet der erste Bremer verletzt aus. Wenig später erledigt Marcello mit einer an Körperverletzung grenzenden, aber ungestraften Attacke von hinten in Dauns Beine den zweiten. Der dritte Werderaner, der noch vor der Pause unfreiwillig zum duschen muss, heißt Verlaat. Nach einem langen Pass von Strasser in die Spitze greift der Holländer unserem Superfinnen an die Schulter. Miklu fällt, Schiri pfeift, Verlaat geht. Dem Platzverweis folgt ein bemitleidenswerter Freistoßversuch Asanins. Dann ist Pause. Viel passiert ist nicht bisher. Auch nicht auf den anderen Plätzen, sagen sie im Radio. Bereits seit Spielbeginn scheint die halbe Nordkurve verkabelt. Hannover drückt, heißt es, Bielefeld spiele wie ein Absteiger. Als ob das was Neues wäre.

Unser personelles Übergewicht lässt mich der zweiten Hälfte positiv gegenüber stehen. Und tatsächlich dauert es nicht lange, bis die Borussia eine deutliche Überlegenheit entwickelt. Lienen hat umgestellt, das neue 3-4-3 zahlt sich aus. Besonders Kluge und Demo sorgen für Wirbel. Das Privatduell Demos mit Bremens Keeper Borel entscheidet letzterer zweimal für sich. Ungläubiges Staunen auf den Rängen, Powerplay auf dem Rasen. Nach etwa einer Stunde setzt Forssell zu einem seiner unnachahmlichen Dribblings im Strafraum an und legt quer auf Kluge. Abgezockt der Mann! Lässt durch einen Schlenker Gegenspieler und Torwart gleichermaßen ins leere springen, bevor er den Ball mit der Picke in Richtung Tormitte bugsiert. Verzweifelt fährt Borel noch seine rechte Hand aus, kann die Kugel diesmal aber nicht mehr erwischen. Was in dem Moment, als die Kugel die Torlinie überschreitet, in mir vorgeht, ist kaum zu beschreiben. Ich fühle Erleichterung, klar. Unbändige Freude. Pures Glück. So viele hängengebliebene Eindrücke einer langen und aufreibenden Saison schießen mir in Sekundenbruchteilen gleichzeitig durch den Kopf, dass ich unfähig bin, sie zu verarbeiten. Ich kapituliere vor der Erhabenheit dieses überwältigenden Augenblicks.

Viel Zeit zur Erholung bleibt nicht, denn die Hausherren sehen sich nun ihrerseits ziemlich unter druck gesetzt. Doch unser Schweizer hält seinen Kasten biltzsauber. Stiiiiiiiiiiiel!!! Tolle Stimmung auf den Rängen. Es ist jetzt ein wirklich gutes Spiel. Gladbach kontert. Flanke Ketelaer, Flugkopfball Skoubo. 2:0. Wunderschönes Ding. Endlich kann auch ich mal wieder befreit aufjubeln. Das ist die Erlösung. Wer braucht jetzt noch Radios?

Das 3:0 folgt beinahe umgehend. Es sieht aus, als wollten die Jungs den Sack nun wirklich endgültig zumachen. Schon wieder Skoubo. Ein echtes Abstaubertor nach einem schönen Lupfer von Kette, der wohl eigentlich für Kluge gedacht war. Wen stört’s?

Jetzt lässt man es etwas ruhiger angehen auf dem satten grün und atmet erst mal durch. Korzynietz will auch noch eine Bude machen und schenkt kurzerhand Stiel einen ein. Der ist wenig begeistert. Trotz des Anschlusstreffers scheint Bremen nicht mehr in der Lage, noch irgendwas zu reißen. Die Hausherren lehnen sich sinnbildlich zurück – bis auf einen. Als Demo auf dem linken Flügel abbricht, statt einen durchaus nicht unerreichbaren langen Pass zu erlaufen, bekommt Forssell in der Mitte einen Wutanfall – er ist offensichtlich heiß auf sein ganz persönliches Abschiedstor. Und er soll es bekommen. Kette (wer sonst?) legt ihm uneigennützig auf. Bremens Kristajic vernascht der Finne wie einen Schuljungen und versenkt das Leder trocken in den kurzen Winkel. 4:1, der Berg steht Kopf. Vor Frust ballert Borel den Ball auf die Ostgerade. Der Schlusspfiff ist der Beginn einer überwältigenden Party.

Etwa eine Dreiviertelstunde lang feiert das heimische Publikum alles und jeden. Die Spieler genießen es merklich. Marcello scheint außer Rand und Band, verspritzt Bier wohin immer er kann. Trotz eines heimtückischen Ablenkungsmanövers durch Igor Demo entkommt Lienen ihm knapp. Van Lent nimmt Forssell auf die Schultern und schenkt ihm seine ganz persönliche Ehrenrunde. Sichtlich beeindruckt nimmt der Liebling der Massen die überschwänglichen Sympathiebekundungen entgegen. Dann wird’s noch toller. Kette und Eberl holen Hans Meyer von der Tribüne. Unten angekommen, fällt ihm sein Nachfolger Ewald Lienen in die Arme. Zusammen postieren sich die beiden vor der Nordkurve und starten die Welle. Bilder, die im Fernsehen noch Tage später eine Gänsehaut hervorrufen. Und wir mittendrin. Einzigartig.

Gegen sechs ist Feierabend am Berg. Auf geht’s zur Fanprojektparty nach Eicken. Dort fließt nicht nur das Bier in Strömen. Auch der Himmel öffnet nun seine Schleusen. Der Stimmung tut das keinen Abbruch. Alles wartet auf die Mannschaft, die gegen halb acht eintrifft. Als Ewald Lienen und seine gut gelaunten Mannen den Jever-Bus erklimmen, werden sie frenetisch gefeiert. Zunächst dankt der Trainer den Fans für ihren tollen Support. Das ist zwar nur selbstverständlich, kommt aber natürlich bestens an. Dann darf so ziemlich jeder mal ans Mikro. Van Lent bedankt sich als nächster. Forssell meint, er habe zwar bei Chelsea Vertrag, aber im Fußball sein nichts unmöglich. Auch Stéphane Stassin nimmt Abschied. Korzynietz erzählt allerlei Unsinn und wird dabei von Kettes sinnentleertem Gequatsche noch übertroffen. Allen voran aber heizt Marcello die Menge an. Gleich zu Beginn stimmt der angeheiterte Brasilianer einige „Cologne“-feindliche Gesänge an. Am Ende steht er alleine über den Massen. Wenig bescheiden und mit knallroter Birne gibt er zum besten: „Marcello ist der beste Mann der Welt, Marcello ist der beste Mann der Welt...“ Ein Bild für die Götter.

Für einen stimmungsvollen Ausklang des eigentlich rundherum gelungenen Saisonabschlusses sorgen schließlich B.O., und auch der Wettergott hat ein Einsehen. Folglich wird noch mal kräftig gerockt, bevor sich Grevener Fohlen und Münsteraner Mönche wieder am Bahnhof zusammenfinden, um die gemeinsame Rückfahrt anzutreten.

So findet eine bis zum Schluss aufregende Saison letztlich wieder einmal ein außerordentlich stimmungsvolles und für viele Strapazen entschädigendes Ende. Nicht nur mir persönlich wird dieses denkwürdige Saisonfinale unserer Borussia mit all seinen ups and downs in Erinnerung bleiben. Vielen Dank an alle, die – wie auch immer – mitgeholfen haben, diesem einzigartigen Verein, dessen Fankultur seines gleichen sucht, den so wichtigen Verbleib in Deutschlands Fußball-Eliteklasse zu sichern.

T.H.

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Bilder gibt es hier