Das große Finale

Rückblick auf einen rauschenden Saisonabschluss in schwarz-weiß-grün

 

Im Grunde war alles wie gehabt. Besonders die Parallelen zur Vorsaison lagen auf der Hand. Allen (berechtigten?) Hoffnungen entgegen hatten „wir“ es auch in diesem Jahr nicht geschafft, den Klassenerhalt frühzeitig zu sichern. Wieder einmal hatte die Borussia mehrere gute Chancen dazu beinahe fahrlässig ungenutzt verstreichen lassen. Wieder gehörte sie deshalb genau 21 Tage vor dem Saisonfinale noch immer zum Kreis der Abstiegskandidaten. Wieder stand zu befürchten, dass dies womöglich bis zum letzten Spieltag so bleiben würde und wieder stand eine Woche zuvor ein Auswärtsspiel auf dem Programm.

 

Eins jedoch war anders. Zur altbekannten Abstiegsangst, diesem aufwühlenden Dauerstresszustand, der einen in solchen Zeiten einfach ungefragt überall hin begleitet, gesellte sich diesmal ein besonderes Gefühl der Wehmut. Denn man wusste: das letzte Heimspiel der Spielzeit würde so oder so einen schmerzhaften Abschied mit sich bringen – egal, auf welchem Tabellenplatz der VfL am Ende landen würde. Gladbachs Saisonabschluss bedeutete zwangsläufig die lange geplante, aber für viele immer noch kaum vorstellbare Abkehr des Vereins von seiner traditionellen  Heimspielstätte. Der bevorstehende Umzug von Eicken in den Borussia-Park würde stattfinden. Soviel stand fest, und nicht wenigen wurde bei dem Gedanken daran ein wenig mulmig.

 

Sicherlich hatte ein jeder Fan bis zu diesem Zeitpunkt bereits an seinem eigenen Bild von Borussias Zukunft gemalt. Doch hoffte die Fohlenschar natürlich kollektiv und innig, den Rasen der neuen Gladbacher Arena künftig nicht wie eine Herde Ziegen rheinabwärts in Zweitligagefilden abgrasen zu müssen. Denn man wusste: Soweit musste es beileibe nicht kommen. Im Gegenteil: man hatte es selbst in der Hand. Das vorletzte Heimspiel gegen in dieser Saison insgesamt enttäuschende (und daher schlagbare) Schalker stand an. Es galt, endlich einmal eine Gelegenheit am Schopfe zu packen, das Schicksal des Vereins durch einen Sieg gegen die „Königsblauen“ aktiv mitzugestalten und ihm obendrein zu einem (denk-)würdigen Saisonabschluss ohne jegliches Zittern zu verhelfen. Rund um den altehrwürdigen Bökelberg herrschte Aufbruchsstimmung.

 

Das bemerkten auch die Aasee-Mönche aus Münster, als ihr Bus am Fuße des Giganten zum Stehen kam. Die Türen öffneten sich, und zum vorletzten Mal machte man sich frohen Mutes auf den Weg zum Fanladen, in die Fankneipe und schließlich den Berg hinauf ins restlos ausverkaufte Stadion. Nicht minder hoffnungsfroh fanden sich dort oben ebenfalls jede Menge Gelsenkirchener Fans ein, deren Träume vom Erreichen eines Uefa-Cup-Platzes jedoch alsbald wie Seifenblasen zerplatzen sollten. Im wahrsten Sinne des Wortes vom Anpfiff weg bekamen die Gäste an diesem Nachmittag die beeindruckende Gladbacher Entschlossenheit zu spüren. Nicht einmal eine Minute war gespielt, als Markus „Hausi“ Hausweiler seinen eigenen Abpraller wieder aufnahm und kurz und schmerzlos zum 1:0 in die Maschen wemmste. Vor der tobenden Nordkurve gratulierte ihm anschließend der bis in die Haarspitzen motivierte Tschen-Bubi Sverkos als erster. Etwa eine Dreiviertelstunde später holte eben dieser „Sverki“ einen Elfer gegen Schalkes unbeholfenen Keeper Rost heraus, den er abgezockt höchst selbst versenkte. Damit war die Partie bereits zur Pause gegessen. Was in der zweiten Halbzeit folgte, war langweilig bis souverän – Gladbach schaukelte das 2:0 jedenfalls locker über die Zeit. „Uefa-Cup ade!“ bedeutete das für die Schalker und ihre ach so tolle Monster-Arena. Dass ein fettes Stadion allein auch nicht glücklich macht, demonstrierte sinnbildlich S04-Manager Assauer, als er nach dem Abpfiff auf dem Parkplatz einsam und allein ein dummes Gesicht zum siebzehnten Zigarillo des Tages machte. In den Armen lagen sich dagegen die Borussenfans. Mit einem derart unspektakulär-erfolgreichen Samstagnachmittag hatte wohl kaum jemand gerechnet. Dem anstehenden Gastspiel in Dortmund konnte man jetzt wesentlich gelassener entgegensehen – bereits ein einziger aus dem Westfalenstadion entführter Punkt würde zum ersehnten Klassenerhalt reichen...

 

Genau eine Woche später schien eben dieser Punkt zunächst tatsächlich zum greifen nahe. Kopfballungeheuer Ivo Ulich hatte die einzig wahre Borussia beim BvB sehenswert in Führung gebracht. Da störte es wenig, dass auch Abstiegskonkurrent 1860 in München bereits seit der zweiten Minute gegen Hertha führte. Alles ließ sich denkbar gut an für die zu Tausenden angereisten Gladbacher Supporter vor Ort und die noch viel größere Zahl derer, die das Geschehen vor dem Fernseher verfolgten. Dann jedoch wendete sich das Blatt. Die Anspannung der Beteiligten zeigte sich allzu deutlich, als Fachmann Holger nach einem rüden Dortmunder Foul erregt auf den Platz stürmte, wofür vom Schiri auf die Tribüne verwiesen wurde. Zudem schenkten die millionenschweren (aber am Ende doch nur für den UI-Cup qualifizierten) Hausherren ihren Gästen noch im Laufe der ersten Halbzeit zwei Buden ein. Relativ schnell wurde klar, dass es wohl auch an diesem Nachmittag auswärts (wieder einmal) doch nichts zu holen gab. Somit ruhten nun große Hoffnungen auf den ebenfalls noch abstiegsgefährdeten, vom Ex-Borussen Meyer trainierten, aber in München bekanntlich zurückliegenden Berlinern. Unverschämterweise ließen die sich bis zur 86. Minute Zeit, bevor sie durch einen Madlung-Kopfball tatsächlich ausglichen. Die frohe Kunde wurde allerseits mit Erleichterung aufgenommen. Sollte es das für dieses Jahr wirklich gewesen sein? War Hans Meyer jetzt endgültig selig zu sprechen? In diese Gedankengänge hinein ertönte ein schriller Pfiff, der von München bis nach Dortmund zu hallen schien. Gott im Himmel! Worst Case. Super-GAU. Elfmeter für 1860.

 

Was man im Westfalenstadion nur übers Radio mitbekam, durfte der geneigte Fernsehzuschauer mit eigenen Augen in Farbe durchleiden. Die Entscheidung des Schiris in München erschien nicht nur den Hauptstädtern zumindest zweifelhaft – zu ändern war sie nicht mehr. Plötzlich verrannen die Sekunden deutlich langsamer als zuvor. Zehn Münchner Löwen hatten die Hosen offensichtlich gestrichen voll und ihr sonst so großmäuliger Dompteur nichts (mehr) zu sagen. So bewies einzig Francis Kioyo, eingewechselter Ex-Kölner aus Kamerun, den nötigen Mumm, fasste sich ein Herz und schritt zum Punkt. Münchnern, Lauterern, Frankfurtern, Hannoveranern, Berlinern und Gladbachern schärften sich die Sinne; die Hände wurden feucht. Ganz Deutschland schaute auf Kioyo. Der trat an – und verschoss.

 

Knapp links am Tor strich das Leder vorbei. Der Jubel der VfL-Fans in Dortmund über diese Nachricht glich dem über einen selbst erzielten Ausgleichstreffer und war auch im TV überdeutlich zu vernehmen. Ebenso verdutzt wie das heimische Publikum zeigten sich die Gäste auf dem Rasen – und fingen sich prompt das dritte Gegentor. Weil dann aber in Berlin Schluss war, interessierte das so recht niemanden mehr. Fachmann Holger erfuhr’s übers Handy, riss die Arme hoch und umarmte spontan den, der ihm am nächsten stand – Christian Wörns. Jetzt war Gladbach auf jeden Fall drin – und Feiern angesagt. Es wurde eine rauschende Party, bei der vor allem Bernd Korzynietz zu einer Form auflief, die ihm sicher zuvor im Spiel noch um einiges besser zu Gesicht gestanden hätte. Egal war aber nun so einiges und daher sah man gerne zu, wie „Kozze“ und „Sverki“ (mit Sombrero) ihrer guten Laune freien Lauf ließen. Jetzt konnte er kommen, der rauschende Abschied vom Bökelberg.

 

Und er kam. Am Samstag, dem 22. Mai 2004 pilgerten zum letzten Mal 34.500 Menschen nach Eicken, um den dortigen Fußballtempel der einzig wahren Borussia wie schon so oft bis auf den letzten Platz zu füllen. Auch das Wetter spielte mit und ließ den Berg bei nahezu wolkenlosem Himmel in seinem ureigenen, beinahe magischen Glanz erstrahlen. Das Tamtam vor dem Abpfiff erlebte wohl jeder im Stadion auf individuelle Art mit, in Gedanken schwelgend oder einfach die einzigartige Atmosphäre aufsaugend. Bye, bye Bökelberg lautete das Motto, wie auch B.O. über die wieder einmal hoffnungslos überforderte Lautsprecheranlage intonierte. Bei Kundgabe der Mannschaftsaufstellung verkündete Stadionsprecher Opdenhövel, anstelle von Klaus Reitmaier säße heute Uwe Kamps auf der Bank. Eine echte Überraschung. Der würde doch nicht...

 

Endlich marschierten die Teams ein. Mit „Time to Say Goodbye” trug auch der hierzu erklingende Titel einen passenden Namen. Eine umfassende Choreografie setzte Ostgerade, Nord- und Haupttribüne würdig in Szene. Anschließend wurden zahlreiche VfL-Profis (wie zB Madrids eigens angereister Rubèn, Arie van Lent, Sladan Asanin oder Jörg Stiel) offiziell verabschiedet. Schließlich ertönte der Anpfiff. Die letzte Bundesligabegegnung auf dem Bökelberg hatte begonnen.

 

Schnell wurde deutlich, dass die „Sechz’ger“ diesmal nur die Staffage eines glänzenden Bildes sein würden, das der Bökelberg abzugeben bereit war. Zwar bekamen auch sie zur Feier des Tages etwas geschenkt – einen Elfmeter nämlich – doch präsentierten sich die Löwen im Grunde zu keiner Zeit als würdiger Gegner eines Abschiedsspiels von angemessener Qualität. Folgerichtig wurden sie mit 3:1 aus der Bundesliga gekegelt und zurück in ihren Pumakäfig an der Grünwalder Straße geschickt. Alle drei Buden des VfL wurden mit dem Kopf erzielt. Vaclav Sverkos machte den Anfang, Fußballgott Igor Demo es ihm mit einem sehenswerten Flugkopfball nach. Als letzter Torschütze am Bökelberg aber ging Arie van Lent in die Geschichte ein. Unnachahmlich wuchtete er den Ball unhaltbar für Lenz in den Kasten und erinnerte so eindrucksvoll daran, was ihn in den fünf Jahren zuvor so wichtig für die Borussia hatte werden lassen. Dass Enrico Gaede die zweifelhafte Ehre des letzten Platzverweises (durch eine gelb-rote Karte) zuteil wurde, sei hier nur am Rande erwähnt. Eine andere Gegebenheit ließ dies ohnehin alsbald in den Hintergrund treten. Mit Uwe Kamps bekam ein Held vergangener Tage seinen würdigen offiziellen Abschied und ermöglichte durch seine Einwechslung Jörg Stiel einen ebensolchen. Ungefähr zehn Minuten lang hielt „Uuuuuwe“ seinen Kasten noch sauber, parierte einmal prächtig und hatte ein anderes Mal scheinbar Glück, als der Ball nach einem Schuss aus der zweiten Reihe hinter seinem Rücken vom Pfosten aus zurück ins Feld sprang. „Uwe hat’s gesehn...“, skandierte jedoch das fachkundige Gladbacher Publikum voller Überzeugung.

 

Nach 92 gespielten Minuten schließlich beendete der Abpfiff der Partie die Gladbacher Saison 03/04 und mit ihr eine Ära. Es folgten standing ovations für ein Stadion, das viele über Jahrzehnte hinweg lieber gewannen als das eigene Wohnzimmer. Feiern ließen sich die, denen als letzte ihrer Zunft die Ehre zuteil wurde, mit der Raute auf der Brust den Rasen dieser einzigartigen, zeitweise europaweit geschätzten, mitunter sogar gefürchteten Sportstätte umzupflügen. Wieder einmal tat sich Vaclav Sverkos (wer auch sonst?) dabei als wahre Stimmungskanone hervor. Seine Kollegen van Lent und Asanin trug man unterdessen eine Runde auf Händen. Über eine halbe Stunde lang verließ kaum jemand seinen Platz, um diesen ganz besonderen Moment voll auskosten zu können. Beschwingt und mehr oder weniger gerührt trat man dann aber doch den unvermeidlichen Heimweg an, wenngleich dieser für viele auch zunächst über die Fanparty in Eicken führte. Früher oder später jedoch wurde es für jeden traurige Gewissheit: Es ist vorbei. An einer der großen Fußballbühnen dieser Welt ist der letzte Vorhang gefallen.

 

Borussia Mönchengladbach steht vor dem notwendigen Aufbruch in eine teilweise ungewisse, aber hoffentlich erfolgreiche Zukunft mit neuer Heimat. Zwar geht man niemals „so ganz“, doch wird die Wiege der Borussia leider in dieser Zukunft praktisch kaum mehr eine Rolle spielen. Vergessen wird man den Berg und die zahlreichen sich um ihn rankenden Legenden dagegen nie. Dazu beitragen kann und wird schon allein das vereinseigene Museum im schicken Borussia-Park. Auch die Aasee-Mönche Münster sagen zum Abschied leise „Servus“. Mit einer Träne in den Augen und einem Segen auf den Lippen gedenken wir einem Stadion, das nicht zuletzt durch uns Fans die Bundesliga geprägt hat wie kaum ein zweites. Bye, bye Bökelberg! Rest in peace.

 

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